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Der kubanische Bauer Jorge Márquez ist in den vergangenen 28 Jahren sechs Mal vom Blitz getroffen worden.*

Der erste Schlag traf Jorge kurz nach seinem 30. Geburtstag. Mit einer Kiste frisch geernteter Mangos war er unterwegs zu Fernanda. Bisher hatte er sie nur aus der Ferne beobachtet: ihr lautes Lachen, ihren schnellen Gang, ihre langen Locken. Sie hatte erst vor kurzem die Schule beendet. Über einen anderen Bauern hatte Jorge von ihrer Vorliebe für Mangos gehört. Der Blitz traf ihn wenige Meter vor ihrem Haus. Als er die Augen wieder öffnete, lag er zwischen den zerquetschten Mangos. Seine Knochen schmerzten. Ein paar Bauern eilten herbei, halfen ihm auf und brachten ihn nach Hause. Eine seiner Schultern war leicht verbrannt, die rechte Hand wie betäubt. Er erholte sich in wenigen Tagen und wenn seine Nachbarn nach ihm sahen, klopften sie ihm respektvoll auf die Schulter.

Der zweite Blitzschlag traf Jorge, als er die Mangos mit seinem Traktor zu Fernanda bringen wollte. Wieder wartete er eine Weile bis die Verletzungen verheilt war. Wieder belud der kubanische Bauer den Traktor mit Mangos. Wieder traf ihn unterwegs der Blitz. Zum dritten Mal. Er verstauchte sich den Knöchel und verlor all seine Zahnfüllungen. Während er sich von den Strapazen erholte, stellten ihm die Nachbarn abwechselnd Essen vor die Tür. Aber niemand klopfte ihm mehr auf die Schulter. Jorge versuchte, Fernanda zu vergessen. Er reparierte den Traktor. Pflanzte neue Mangobäume. Schlief kaum noch.

Als er Fernanda zufällig auf einem Dorffest traf, studierte er argwöhnisch den Himmel. Sie stand zwischen mehreren anderen Bauern. Jorge stellte sich dazu und erzählte ihr so lange von seinen Mangos, bis sie sich nur mit ihm verabreden wollte. Doch als er am nächsten Abend im weißen Hemd vor ihrem Haus wartete, traf ihn Blitzschlag Nummer vier. Sobald die Prellungen verheilt waren, fuhr Jorge nach Havanna, um einen Meteorologen um Rat zu fragen. Als er aus dem Bus stieg, warf ihn der fünfte Blitzschlag zu Boden. Der Fahrer half ihm auf, setzte ihn in eine Bar. Mit dem Bauch voller Zuckerrohrschnaps trat der kubanische Bauer die Rückreise an, fiel in sein Bett und verließ es vier Wochen lang nicht mehr.

Im Dorf kursierten längst die merkwürdigsten Geschichten. Jorge war ein seltsamer Anblick geworden: Die Haare fielen ihm schneller aus als den anderen Bauern und beim Gehen zog er das linke Bein nach. Oft sah man ihn in seinem Hof sitzen, wie er stumm den Himmel beobachtete. Fernanda hatte ihre Vorliebe für Mangos aufgegeben und sich einem anderen Bauern zugewendet. Einem Maisbauern. Kein Unwetter verhinderte ihre Hochzeit oder die Geburt ihrer vier Kinder. Jorges Mangobäume wuchsen und wuchsen und wuchsen. Erst als Fernandas Mann bei einem Unfall ums Leben kam, wagte sich Jorge wieder in ihre Nähe. Er war mittlerweile 58 Jahre alt. Als er sich auf der Treppe die Schuhe zubinden wollte, traf ihn der Blitz ein sechstes Mal. Dem Journalisten, der daraufhin anreiste, um seine Geschichte zu Papier zu bringen, gab er keine Antwort. Sein Blick war gen Himmel gerichtet. Mit Brandwunden ihm Gesicht zählte er die Wolken und murmelte unverständliche Dinge. Als Fernanda ein paar Tage später vor ihm stand, erkannte der kubanische Bauer sie nicht mehr wieder.

* Der erste Satz stammt aus einer Meldung in der Süddeutschen Zeitung vom 28.08. 2011. Ein Vorschlag von Julia Monge Duarte.